Predigt über Markus 7, 31-37

22. August 2021

Christuskirche Manching

Pfarrer Rudolf Potengowski

 

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder! Hefata! – Ja, ihr habt richtig gehört: Hefata! Vermutlich wisst ihr nicht, was das bedeutet. Es ist Aramäisch, die Muttersprache von Jesus. In der Synagoge wurde Hebräisch gesprochen, aber die Alltagssprache war Aramäisch. Nur wenige Worte sind uns überliefert, so wie sie Jesus im Originalton gesprochen hat, etwa, wenn er betete: „Abba“ = „lieber Vater“, oder als er die Tochter eines Synagogenvorstehers wieder zum Leben erweckte: „Talita kumi“ = „Mädchen, stehe auf“, oder am Kreuz: Eli, Eli lama asabatani“ = „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Alles Worte in ganz entscheidenden Situationen und von bleibender Bedeutung. Und eben auch: Hefata! Und was bedeutet das? werdet ihr fragen. Es heißt: „Tu dich auf!“ Hefata = Tu dich auf! Die dazugehörige Geschichte hat uns Markus in seinem Evangelium im 7. Kapitel, Vers 31-37 berichtet:

 

„Als Jesus wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und spuckte aus und berührte seine Zunge und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata! das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s ihnen aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden.“

 

Da wird also einer zu Jesus gebracht. Was ist mit ihm? Er war taub, heißt es. Taub – nichts dringt in sein Ohr: kein Zwitschern der Vögel, kein Plätschern des Wassers, kein Rauschen des Windes – nichts, alles still. Die Leute um ihn bewegen ihre Lippen, sie reden, sie streiten, sie lachen – er ist dabei und doch zugleich ausgeschlossen, als wäre da eine Glaswand, durchsichtig. aber undurchdringlich, und diese trennt ihn von allen anderen. Und er ist stumm, nur einige lallende Laute kommen über seine Lippen. Wenn jemand keinen anderen sprechen hört, wie sollte er dann selber richtig reden können? Sonst erfahren wir nicht viel von ihm, außer dass er im Gebiet der Zehn Städte, der Dekapolis südöstlich des Sees Genezareth, lebte, – ein typisches Grenzgebiet mit Juden, Griechen, Arabern. Krankheit und Leid aber machen keinen Unterschied nach Nationalität, Kultur und Religion. Jesus übrigens auch nicht. Offensichtlich gibt es mitleidige Menschen, die bringen den Mann zu Jesus. Wenn dieser Wunderheiler ihm die Hände auflegt, dachten sie, vielleicht ist ihm dann geholfen. – Und Jesus? Er macht etwas ganz Anderes, er spricht: Hefata! – Tu dich auf! Ach Jesus, kannst du dein Hefata nicht auch heute noch sagen? Ich wüsste da eine ganze Menge Leute, die ich zu dir bringen möchte:

 

Etwa jenes Ehepaar: – Was waren das noch für Zeiten, als sie stundenlang zusammensitzen konnten. Der Gesprächsstoff ging nie aus, und immer wieder, immer wieder: „Ich liebe dich“, ohne dass es langweilig wurde; und wenn sie schwiegen, verstanden sie sich dennoch, ohne Worte. Doch die Jahre gingen, der Alltag kehrte ein, es wurde still zwischen ihnen. Sie sagte, oder war er es: „Hörst du mir überhaupt zu?“ Antwort: „Ja, ja, - was hast du gesagt?“ Oder: „Du, ich muss dir etwas Wichtiges sagen.“ „Ja, später, jetzt habe ich keine Zeit.“ Sie sind taub und sind stumm geworden. „Wir haben viel zu wenig miteinander geredet“, heißt es oft später, wenn es zu einer Trennung gekommen ist.

 

Taub und stumm, so geht es oft auch zwischen den Generationen zu: Wissen die Älteren, was die Jugend wirklich bewegt – ihre Träume, ihre Ängste, ihre Sehnsucht nach vollem Leben? Nein, es sind nicht nur YouTube-Filme und Computerspiele, die sie interessieren, und sie machen sich Gedanken über Dinge, von denen die Alten oft keine Ahnung haben. Und wissen die Jüngeren, wie mühsam für viele Ältere ihr Leben geworden ist, gefangen im Hamsterrad der täglichen Pflichten? Wie viele der einstigen Hoffnungen wie Seifenblasen zerplatzt und an deren Stelle bittere Enttäuschungen getreten sind? Man müsste eigentlich mehr miteinander reden, aufeinander hören, aber ist man überhaupt dazu noch in der Lage?

 

Taub und stumm – gilt das etwa auch für unsere Kirche? Salz der Erde, Licht der Welt soll sie sein. Gottes Barmherzigkeit bezeugen, ein Zeichen der Hoffnung in schwierigen Zeiten. Das ist ihr Auftrag. Doch dafür braucht sie offene Ohren, zwei Ohren: eines für Gott und eines für die Menschen. Kann sie in diese beiden Richtungen hören, oder ist sie nur mit sich selbst beschäftigt, den eigenen Strukturen, den eigenen Finanzen, der eigenen Zukunft? Steht am Beginn unserer Sitzungen und Synoden die Bitte: „Herr, was willst du uns sagen, was ist dein Wille?“ Und hat sie eine Stimme, die verständlich und klar ist?  Nicht viele Worte, die doch nichts sagen, werden von ihr erwartet, sondern Worte, die aus dem Herzen kommen und die Herzen der Menschen berühren, Worte, in denen sich Gott selbst erfahrbar macht.

 

Taub und stumm – viele Beispiele ließen sich noch nennen, im privaten Bereich wie im öffentlichen und politischen Leben. So geringes Bemühen, aufeinander zu hören und einander zu verstehen, und umso mehr Gerede und Geplapper und Geschwafel! Es scheint geradezu eine Krankheit unserer Zeit zu sein. – Doch halt: Es ist so leicht, sich über andere aufzuregen, aber wie ist das eigentlich ganz persönlich bei uns, bei dir, bei mir? Sind wir gar selbst davon betroffen und merken gar nicht, dass wir es sind, die Hilfe brauchen? – Ach Herr, erbarme dich! Sprich doch auch zu uns dein Hefata, tu dich auf!

 

Und sie brachten zu Jesus einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege. Und der Evangelist Markus schildert nun einen therapeutischen Weg, den Jesus mit jenem Menschen ging, den auch Jesus mit uns gehen möchte:

 

Jesus nahm ihn aus der Menge beiseite. Nur sie beide, ohne irgendwelche anderen Leute sind nun zusammen. Was andere denken, was andere wollen – vergiss es! Was du alles erledigen möchtest, tun solltest – jetzt nicht! Die neusten Nachrichten, WhatsApp-Botschaften, das Handy klingelt – später! Jetzt nur mit Jesus allein! Kennen wir solche kostbare und heilsame Zeiten? Sie müssen nicht lang sein, aber sie sind nötig, wenn wir abzustumpfen drohen. Wenn wir uns fragen: Was ist denn eigentlich mit mir los? Wenn die Beziehungen zu anderen und auch zu uns selbst gestört sind. Nimm Abstand und warte, was dann geschieht. Vertraue dich Jesus an und lass ihn machen.

 

Und Jesus legte ihm die Finger in die Ohren. Dem, der nicht hören kann, damals wie heute, zeigt er: Sieh, da kommt bei dir nichts hinein. Da ist wie eine Türe, die ist zu, vielleicht hängt auch noch ein Zettel dran: „Ich bin nicht zuhause!“ Immer unterwegs, immer beschäftigt, da und dort - und fern von dir selbst und von dem, der anklopft. –  Oder da steht: „Zutritt nur für alle, die meiner Meinung sind!“ Alles andere ist uninteressant. Sonst müsste man ja dann auch über Manches neu nachdenken und zugeben, dass man doch nicht immer recht hat. Wie unangenehm! – Oder steht da gar das Schild: „Mir kann doch keiner helfen!“ Das wäre schlimm. Wer könnte dann noch zu dir kommen in deine Einsamkeit, um mit dir Not und Verzweiflung zu teilen und dir Nähe und Liebe zu schenken? Wie soll dich dann noch ein Mensch, wie soll dich dann Gott noch erreichen? – Diese verschlossenen Türen deiner Ohren will ich dir öffnen, sagt Jesus. Und es soll dann nicht da hinein und dort wieder hinausgehen, sondern soll von deinem Kopf den Weg in dein Herz finden, dass es dir da innen warm wird und du wieder leben kannst.

 

Und Jesus spuckte aus und berührte seine Zunge. Speichel galt in der Antike als eine Art Medizin. Jesus will damit dem, der noch nicht hören kann, symbolhaft deutlich machen: Durch meinen Mund sollst du heil werden. Deine Lippen sollen nicht länger verschlossen bleiben, kein sinnloses Gestammel mehr, keine Worte ohne Inhalt und Kraft. Die Einsamkeit deines Schweigens soll durchbrochen werden. Du sollst den Mut haben zu sagen, was dich bewegt und wichtig ist. Ich berühre deine Zunge, dass sie Worte findet, die wahrhaftig sind und Vertrauen stiften und Gutes bewirken.

 

Und Jesus sah auf zum Himmel und seufzte. Das Leid dieses Menschen hat ihn tief betroffen gemacht. Er ist kein distanzierter Beobachter von dem, was auf Erden geschieht, es tut ihm in seiner Seele weh. Ja, es ist wirklich zum Seufzen, was manche Menschen erdulden müssen, was in manchen Familien geschieht, was in der weiten Welt geschieht, was in der Kirche geschieht! Und er blickt empor: Himmlischer Vater, erbarme dich.

 

Und dann sprach Jesus: Hefata! Das erlösende, das heilende Wort. – O Jesus, sprich es auch in unseren Tagen, sprich es auch hier zu jedem in unserm Kreis: Hefata, tu dich auf! Damit auch wir geheilt werden und dann bekennen können: Er hat alles wohl gemacht! Amen.

 

 

 


Predigt über 1. Korinther 1, 18-25

4. Juli 2021

St. Johannes Kirche Ingolstadt

Pfarrer Rudolf Potengowski

            

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder! Bitte, blickt euch einmal hier in dieser Kirche um: Wie viele Kreuze könnt ihr entdecken? – Zunächst dieses hier über den Altar. Es zeigt wohl den auferstandenen und wiederkommenden Christus, aber dieser ist zugleich auch der Gekreuzigte, einer kann ohne den anderen nicht sein. Dann ein Kreuz dort oben an der Rückwand der Empore. Damit hat es eine besondere Bewandtnis: Bevor diese Kirche 1964 gebaut wurde, versammelte sich die Gemeinde im Unterraum des Kindergartens, und dort stand dieses Kreuz. Hier an der Seitenwand hängen Kreuze, viele Kreuze mit den Namen der Verstorbenen. Ein Kreuz liegt auf dem Altartisch, eines sehen wir bei der Krippe und eines ist dort im Relief an der Seite; überall Kreuze – mindestens 35 habe ich gezählt. Es gibt wohl keine christliche Kirche ohne Kreuz.

 

Das Eine ist nun, dass wir Kreuze entdecken, zählen und betrachten. Aber das Andere ist, dass wir fragen: Was bedeutet eigentlich das Kreuz? Was bedeutet das Kreuz für mich? Hören wir zunächst, was der Apostel Paulus dazu im 1. Brief an die Korinther im 1. Kapitel, Vers 18-25 schreibt:

 

„Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es Gottes Kraft. Denn es steht geschrieben: ‚Ich will zunichtemachen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.‘ Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weisen dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? Denn weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die da glauben. Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind.“

 

Was bedeutet das Kreuz? Ich will dazu drei Geschichten erzählen, ganz persönliche Erlebnisse, an denen deutlich wird: Das Kreuz verbindet. Das Kreuz schockiert. Das Kreuz verwandelt.

 

Als erstes habe ich hier dieses Kreuz mitgebracht. – Einer meiner Enkelsöhne hat es mir zum Geburtstag geschenkt. Er ist in der Lehrlingswerkstatt einer metallverarbeitenden Firma tätig und hat es dort selbst für mich angefertigt. Nicht, dass er sich mit seinen siebzehn Jahren besonders mit Religion beschäftigt, da gibt es andere, für ihn wichtigere Themen. Er ist ein netter Kerl, aber manchmal gibt es Probleme mit ihm, und er hat auch ziemliche Probleme. Aber er machte für seinen Opa dieses Kreuz, einfach, um ihm damit eine Freude zu bereiten. Und nun steht es auf meinem Schreibtisch. Und oft, wenn mein Blick darauf fällt, denke ich an meinen Enkel, freue mich über ihn, bete ich für ihn. Das Kreuz verbindet uns. Es ist ein Zeichen der Beziehung. Und so, wie dieser senkrechte Balken Oben und Unten, Himmel und Erde, Gott und Mensch zusammenbringt, so ist der Querbalken wie eine Brücke von einem Menschen zu einem anderen. Er verbindet ein Ich mit einem Du.

 

Das Kreuz – ein Zeichen der Zusammengehörigkeit. Das gilt nicht nur für einen Opa und seinen Enkel. Eigentlich gilt es für uns alle. Überall breitet der Gekreuzigte seine Hände aus. Er weist uns nach links, nach rechts: Wen siehst du dort? Du sagst: Ach, der da! Und diese dort, die doch nervt nur! Und der Gekreuzigte sagt: Das ist dein Bruder, und diese deine Schwester. Ihr habt es nicht immer leicht miteinander. Ihr seid unterschiedlich vom Alter und sozialer Herkunft, blutsverwandt oder auch nicht, von heller oder dunkler Hautfarbe. So verschieden ihr auch seid, aber durch mein Kreuz seid ihr miteinander verbunden.

 

Das gilt auch und gerade für das Leben innerhalb einer christlichen Gemeinde. Der Apostel Paulus schreibt seinen Brief an die Korinther, wo es unter den Christen einen handfesten Streit gab. Die einen sagten: Paulus, der ist unser Gründervater, alles muss so bleiben, wie er es verfügt hat. Aber Petrus ist viel wichtiger, sagten die anderen, nur ihn hat Jesus zum Sprecher aller Apostel gemacht. Ihr habt doch alle keine Ahnung, riefen die dritten, erst Apollos, der Schüler des Paulus, hat uns die Augen geöffnet für die tiefsten Geheimnisse Gottes, und wer die nicht kennt, dessen Glaube ist noch nicht vollkommen. Und was schreibt Paulus dazu? – Nur dieses Eine zählt: Jesus Christus ist am Kreuz für alle gestorben. Er liebt alle, er versöhnt uns miteinander, er baut gerade aus so unterschiedlichen Menschen mit ihren verschiedenen Gaben seine Gemeinde. Das Kreuz ist das Zeichen, das vereint.

 

Lied 268, 1-2: Strahlen brechen viele aus einem Licht …

 

Ich erinnere mich noch genau an jene Begebenheit, auch wenn schon etwa fünfzig Jahre seither vergangen sind: Ich war damals Pfarrer in meiner ersten Gemeinde im Spessart. In der Kirche war über dem Altar ein Bild von Christus am Kreuz. Eines Tages begleitete mich meine Tochter, sie war noch im Kindergartenalter, als ich in der Kirche etwas zu erledigen hatte. Da plötzlich fing sie zu weinen an und wollte gar nicht mehr aufhören. Was hast du denn? fragte ich. Keine Antwort. Erst einige Zeit sagte sie es mir: Das Bild vom Gekreuzigten, dieser nackte, blutige Mann, hatte sie so erschreckt. Ich weiß nicht mehr, was ich ihr damals gesagt habe, aber mit all meiner Theologie fühlte ich mit so hilflos und sprachlos. Da musste erst mein Kind mir bewusstmachen, wie ungeheuerlich doch dieses Geschehen am Kreuz ist. Wie haben wir uns doch alle so sehr an dieses Bild gewöhnt, wie abgestumpft sind wir doch, dass wir gar nicht mehr merken, wie schockierend das Kreuz ist. Mit einem Folterinstrument, einem Galgen schmücken wir unsere Kirchen. Vor dem Bild eines Menschen im Todeskampf sprechen wir unsere Gebete. Müssen uns da erst Kinder dafür die Augen öffnen? Oder sind die heutigen Kinder inzwischen auch schon so abgestumpft durch die Medien und Videospiele mit ihren Gewaltdarstellungen?

 

Es gibt manche ernsthafte Stimmen, die sagen: Das Kreuz in der Kirche ist heute nicht mehr zumutbar. Wir haben doch noch andere, schönere Bilder. Etwa die Krippe, oder der gute Hirte, oder ein Regenbogen. Ja, Gott sei Dank, es gibt diese auch! Aber an ihrer Stelle auf das Kreuz verzichten? Wäre das nicht zu einfach? Würde dann nicht etwa Wesentliches unseres Glaubens fehlen? Ja, das Kreuz schockiert und provoziert. Wo gibt es sonst eine Religion, in deren Zentrum ein sterbender Mensch steht? Buddha sitzt da und meditiert, Shiva im Hinduismus tanzt, und für den Islam ist ein gekreuzigter Jesus so unvereinbar mit der Macht Allahs, dass der Koran sagt. Es war ein anderer, der dort am Kreuz starb.

 

Kinder mögen von dem Anblick des Gekreuzigten tief betroffen sein. Andere aber haben dafür nur Hohn und Spott übrig. Genau diese Erfahrung machte auch Paulus, wenn er die Botschaft vom Kreuz verkündigte. Das kann nicht der Messias sein, sagten seine damaligen jüdischen Zuhörer. Was kann ein Sterbender uns nützen? Stark muss er sein, Wunderzeichen, die allen Zweifel überwinden, muss er vollbringen, nur mit Stärke lässt sich die Welt verändern. Die Griechen aber lachten Paulus aus: So ein Blödsinn! Du hast wohl keine Ahnung von unserer hochstehenden Kultur! Sokrates, Platon, Aristoteles – unsere Philosophen haben uns Weisheit gelehrt, da kannst du mit deinem Jesus nicht mithalten. Das ist doch alles dumm und primitiv.

 

Aber: „Die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind,“ schreibt Paulus. Das Kreuz widerspricht unseren Erwartungen, wie das Leben sein sollte: Dass es uns immer gut geht, dass wir immer auf der Gewinnerseite sind, immer gut drauf, immer gesund und ohne Schmerzen, alles soll vernünftig und verstehbar sein, ohne diese quälenden Warum-Fragen, ohne Tränen der Kinder und ohne nächtliche Albträume, immer und überall möchten wir alles im Griff haben. Nichts ist uns unmöglich, so wünschen wir es uns jedenfalls. Und Gott sollte doch bitte dafür sorgen. Doch das wäre dann eine Wohlfühlreligion, die an der Realität scheitert. Und Gott durchkreuzt sie. Seine Stärke und Weisheit sieht anders aus.

 

Lied 90, 1 „Ich grüße dich am Kreuzesstamm …“

 

Als letztes noch ein Erlebnis: Vor nun fast 13 Jahren musste ich mich einer schweren Operation unterziehen. Nach Klinik- und Reha-Aufenthalt wieder daheim ging ich häufig von meinem Haus die Straße weiter, wo ein Stück hinter den Ortsschild am Straßenrand ein Kreuz steht, und davor ist eine Bank. Dort nahm ich oft Platz, ruhte mich aus, und suchte in meinen Gedanken das, was war und wie es weitergehen wird, zu verarbeiten. Und ich hielt Zwiesprache mit diesem Jesus am Kreuz. „Ja, du weißt, was Schmerzen sind. Und da, an deiner Seite, hast du eine offene Wunde. Ich habe von meiner Operation auch eine Wunde, zwar nicht genau die gleiche Stelle wie bei dir, und auch, nachdem meine inzwischen schon genäht und verpflastert, ich spüre sie noch. Ja, wir zwei gehören zusammen. Du stehst mir bei.“ – Ich möchte diese Erfahrung nicht missen.

 

Das Kreuz verwandelt. Da verändern sich Ängste in Zuversicht, da bekommt der Schwache neue Kraft und der Verzagte neuen Lebensmut. Es ist schon seltsam, dass eine solche Wirkung von einem Gekreuzigten ausgeht. Nicht umsonst werden an Stellen, wo Unglücke geschahen und Menschen ums Leben kamen, Kreuze aufgestellt: Orte der Erinnerung, wo die Trauer ihren Ausdruck finden kann und wo ein Platz ist für alle Klagen und Verzweiflung. Und von da aus ergeht die Einladung: Kommet herzu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Ist es nicht beachtlich? Da kam vor 2000 Jahren einer aus einem entlegenen Winkel der damaligen Welt und wurde schmachvoll hingerichtet, und dieser hat die Machthaber und Geistesgrößen aller Zeiten überdauert und die Spuren seiner Liebe tief in die Herzen unzähliger Generationen eingegraben. Und so lebt er auch heute noch, mitten unter uns.

 

Das Kreuz verbindet, es schockiert, es verwandelt. Was bedeutet das Kreuz, was bedeutet der Gekreuzigte für dich? – Und er Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, höher als alle unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

Lied 697 „Meine Hoffnung und meine Freude …“


Share by: