Predigt über Philipper 2, 5-11
am 24. März 2024 in Mainburg
von Rudolf Potengowski
Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder! „Mitkommen! He, du da! Mitkommen!“ Zwei Uniformierte stürmen in eine Gefängniszelle und zerren einen an Händen und Füßen Gefesselten heraus. „Schon wieder eines dieser endlosen Verhöre. Oder ist es diesmal der Weg zur Hinrichtung?“ Nein, nur eine erneute Befragung durch seine Peiniger: „Du weißt, wie die Anklage lautet: Störung der öffentlichen Ordnung und Aufruhr gegen die Staatsgewalt. Bist du endlich bereit, dich zu unterwerfen und deinen verrückten Überzeugungen abzuschwören? Uns gehört doch das ganze Imperium, fast die ganze Welt! Wir werden dich schon klein kriegen, verlass dich drauf.“ Er schweigt, wird geschlagen, zurück in seine Zelle geschleppt. Wer ist dieser Gefangene? Nawalny? Oder Bonhoeffer? Nein, der Apostel Paulus. Es ist das Jahr 50 oder 60 nach Christus, die Zeit von Kaiser Claudius oder Nero, und zwar in Ephesus oder Rom, so genau weiß man das nicht mehr. Es ist schon seltsam, wie wenig manches im Lauf der Jahrhunderte, Jahrtausende sich bis heute verändert hat.
Seine Wunden schmerzen. „Sterben, ja, sterben und bei Christus sein, das wäre schön! Aber noch werde ich gebraucht, noch ist mein Auftrag nicht erfüllt. Ich muss durchhalten. O Herr, verlass mich nicht.“ Er summt eine Melodie vor sich hin, ein altes Christuslied. Bei seiner Taufe wurde es gesungen und später hatte es ihn immer wieder begleitet: „Er war in göttlicher Gestalt, … wurde Mensch, bis zum Tode am Kreuz, … Gott hat ihn erhöht, … alle sollen bekennen: Kyrios Jesus Christos; er ist der Herr.“ Ein altes Lied, es gibt ihm Trost in schweren Tagen, wird zur Quelle neuer Kraft und Hoffnung. Paulus beschließt, dieses Lied auch seiner Gemeinde in Philippi zu schreiben, gleichsam als Vermächtnis aus der Todeszelle. Es ist der heutige Predigttext, im Philipperbrief im 2. Kapitel die Verse 5-11. Es ist gut, diesen Hintergrund zu nicht zu vergessen, wenn wir diesen Christushymnus jetzt miteinander bedenken.
„Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.“
Es ist ein Lied, – nicht trockene, dogmatische Theorie, wie man sich Christus als wahren Gott und wahren Menschen vorzustellen habe. Darüber sollen sich die Theologen den Kopf zerbrechen; ich bin ja auch einer von diesen. Aber es ist ein Lied, mitten im Leid gesungen, voll Staunen über Christus und seinen Weg, den er gegangen ist, zu uns und für uns und den er mit uns fortsetzen will. Ein Lied voller Vertrauen, das den Sohn Gottes rühmt, der zum Menschenbruder wurde und auch in den dunkelsten Nächten des Lebens uns zur Seite steht. Und wenn wir dieses Lied singen, dann bekennen auch wir ihn als unsern Herrn, allen anderen Herren und Mächten dieser Welt zum Trotz.
Vielleicht sollten auch wir mehr singen, gerade angesichts mancher persönlichen Nöte und Schicksalsschläge, gerade auch in einer Zeit wie dieser mit Krisen und Kriegen und lauter unlösbaren Problemen: Singen, sei es in Dur oder Moll, als Klage oder Protestlied, als Hilferuf und immer wieder als Lobgesang: Gott, du bist da! Selbst in schweren Zeiten und auch noch im Tode. Dein bin ich und bleibe ich, jetzt und für immer! Liebe Chor-Sängerinnen und –Sänger, es fügt sich gut, dass ihr gerade heute in diesem Gottesdienst mitwirkt. Danke für euern Gesang, er ist eine Medizin für Leib und Seele.
„Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht.“ Das kennzeichnet einen Christen, eine Christin, dass er oder sie mit Christus zusammengehört, in der Freude und auch im Leid. Und das ist das Wesen einer christlichen Gemeinde, dass sie sich verbunden weiß mit Christus. der in ihrer Mitte lebt und wirkt. Dann kann und wird in einer Gemeinde auch noch vieles andere passieren, und das ist gut so. Aber das Fundament, auf dem alles andere steht, ist Christus. Mag sich auch im Lauf der Zeiten manches verändern oder gar aufhören, dennoch hat die Kirche eine Zukunft. Diese Gemeinschaft mit Christus, lasst sie uns als Einzelne wie auch als Kirchengemeinde hier am Ort immer wieder suchen und leben und davon singen!
„Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.“ Das ist der Weg Jesu: von oben nach unten, vom göttlichen Glanz in den Staub dieser Erde, von der Herrlichkeit des Vaters in den Stall von Bethlehem und zum Kreuz auf Golgatha. Unser Weg sieht oft ganz anders aus: von unten nach oben, auf der Karriereleiter eine Sprosse nach der anderen, immer mehr Wissen, mehr Macht, mehr Geld, mehr Ruhm und Ehre. In gewisser Weise ist das auch normal und berechtigt, besonders in jungen Jahren. Aber eben nur in gewisser Weise, sofern es nicht zum einzigen Lebensziel wird. Sonst ist der Preis dafür sehr groß, zu groß und mit verheerenden Folgen für einen selbst und für andere. Das Konzept „Immer mehr, immer mehr Wachstum“ ist ja bekanntlich die Strategie eines Krebsgeschwürs. Wir dürfen bei aller Himmelsstürmerei nicht vergessen: die höchste Würde und das letzte Ziel eines Menschen ist, Mensch zu sein. „Sei ein Mensch,“ so hat Marcel Reif bei der diesjährigen Feierstunde im Bundestag anlässlich des Holocaust-Gedenktags das Vermächtnis seines in Auschwitz ermordeten Großvaters zusammengefasst. Kein Übermensch, kein Unmensch, sondern nur ganz einfach: Mensch. Hat nicht auch Jesus durch seine Menschwerdung dieses Ziel uns vor Augen gestellt? Und er ist ihm treu geblieben, bis zu seiner letzten Stunde. Sogar Pilatus musste das bezeugen, als Jesus verhöhnt und gemartert vor ihm stand: Ecce homo, seht, welch ein Mensch.
„Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.“
Das hätte sich wohl Pilatus nicht träumen lassen, auch Kaiphas und die Mitglieder des Hohen Rates nicht, ganz zu schweigen von Kaiser Tiberius in Rom und all die anderen Machthaber, die damals wichtig waren oder meinten, sie wären wichtig. Heute fristen sie alle bestenfalls ein Schattendasein in den Geschichtsbüchern, wenn überhaupt. Wir aber haben uns heute hier im Namen Jesu versammelt. Wir singen: „Jesu, geh voran auf der Lebensbahn.“ Wir wissen uns als Teil einer Christenheit, die über die ganze Welt verbreitet ist und die sich heute ebenfalls überall zum Gottesdienst versammelt. Und während bei uns die Gottesdienste leerer und die Gemeinden kleiner werden, ist zugleich das Christentum in China und Afrika eine der am schnellsten wachsenden Religionen, und die Mehrzahl derer, die an Jesus glauben, ist auf der Südhalbkugel der Erde. Wir haben das bisher bloß noch nicht bemerkt. Freilich sind die Christen aber auch jene, die am meisten um ihres Glaubens willen verfolgt werden. Es ist das große Geheimnis Gottes, dass der Weg, der für uns am Karfreitag zu enden scheint, zum Ostermorgen führt und heute Menschen in aller Welt und aller Generationen den Gekreuzigten und Auferstandenen als ihren Herrn und Heiland bekennen. Es täte uns darum gut, wenn wir uns das immer wieder bewusstmachten und unsern Glauben nicht als Kopfhänger und Jammerverein zelebrierten, sondern mit Freude und Selbstbewusstsein bekennen: Kyrios Jesus, unser Herr ist Christus.
Übrigens, was den Apostel Paulus betrifft, so wissen wir nichts Genaues, ob er damals noch einmal aus dem Gefängnis freikam. Nach der Überlieferung soll er im Jahr 64 unter Kaiser Nero durch das Schwert hingerichtet worden sein und so den Märtyrertod erlitten haben. Für uns aber, heute und hier, gilt: Lasst uns weiterhin oder wieder neu unsern Lebensweg gehen mit Jesus, diesem Herrn aller Herren. Mit ihm, der so ganz anders ist als andere Herrscher. Er schreit uns auch nicht an: „Mitkommen! He, du da! Mitkommen!“ Er lädt uns ein, liebevoll und freundlich: Komm und folge mir nach. Das nächste Lied, das unser Chor jetzt singt, sei unser aller Antwort: „Here I am, Lord! Hier bin ich, Herr!“ Amen.